Review< Zurück 02.08.2010
Von Max Werschitz
Nach zweimaligem Kinobesuch wage ich mich nun doch weniger an eine klassische Kritik über, als eine großteils persönliche Interpretation von Inception. Ich werde hier zwar die Handlung bewusst nicht wiederkauen, würde aber trotzdem allen raten den Film zuerst anzusehen bevor sie den folgenden Artikel lesen.
Ich verlasse den noch halbdunklen Kinosaal und nehme vor allem ein prägendes Bild mit hinaus in die verregnete Nacht: Christopher Nolans gestreckter Mittelfinger, äh, Kreisel, der sich mir mit unendlicher (oder doch nicht? oder doch nicht?) Drehbewegung ins Hirn bohrt. Erst vier Tage und einen weiteren Kinobesuch später wird mir eines klar: Inception funktioniert, und inception funktioniert. Was ich damit meine will ich in den folgenden Zeilen erläutern.
Vor gut drei Jahren hatte ich das Vergnügen in meiner Diplomarbeit unter anderem Ridley Scotts Sci-Fi Klassiker Blade Runner zu analysieren. Der Film basiert auf einem Roman von Philip K. Dick mit dem Titel Do Androids Dream of Electric Sheep?, und diese Androiden sind sogenannte Replikanten, von uns für Sklavenarbeit erschaffen. Ich würde mal sagen Dick ging es bei dem Buchtitel weniger darum ob diese geträumten Schafe eine Steckdose brauchen oder sich doch mit konventionellem Gras zufriedengeben, als um die Frage ob Replikanten überhaupt träumen, und damit eine zutiefst menschliche Eigenschaft zeigen. Und siehe da, sie tun es, und noch viel mehr. Der Director's Cut des Films stellt schließlich mit einer ähnlich symbolhaften Endszene wie jene von Inception die Frage ob der Held des Films, der Replikantenjäger Deckard, nicht eigentlich auch ein Replikant ist, und rüttelt damit, ebenfalls wie Inception, gewaltig am zuvor raffiniert aufgebautem Gerüst des Films.
Vor Nolans gestrecktem Mittelfinger war also Scotts gestreckter Mittelfinger. Und beide Finger teilen das Kinopublikum in zwei Lager, mit scheinbar nur zwei Möglichkeiten: In Blade Runner ist Rick Deckard entweder ein Mensch oder ein Replikant. In Inception ist Dom Cobbs Happy End entweder Realität oder ein Traum. (Einige behaupten sogar der gesamte Film wäre ein Traum). Was eines eigentlich sofort deutlich machen sollte: diese Ambiguität ist natürlich Absicht, und ist – vor allem im Fall von Christopher Nolan – exakt das was einen guten Geschichtenerzähler ausmacht. Die Suche nach der Antwort, das Argumentieren in eine von nur zwei Richtungen, lenkt währenddessen vom wahren Kern der Materie ab.
Blade Runners ultimative Frage ist nicht "Wer ist ein Mensch?" sondern "Was macht einen Menschen aus?". Und dies wird meiner Meinung nach eindeutig geklärt. Selbst wenn Deckard ein Replikant wäre, so hätte er durch seine Taten, und vor allem seine Emotionen, während des Films die Grenze zum "Menschlichen" längst überschritten. Er hätte die Etikettierung, basierend auf dem binären Denken mit dem wir so gerne die Welt in schmackhafte Tortenstückchen teilen, erfolgreich abgeschüttelt.
Dasselbe gilt für Inception. Die Frage die Nolan stellt ist nicht "Was ist Realität?" sondern "Was ist für wen real?". Denn hinter all den bombastischen Actionszenen und atemberaubenden visuellen Effekten geht es hauptsächlich um eines: Cobbs emotionale Reise, die schließlich in einer langersehnten und hart erkämpften Katharsis mündet. Er lässt endlich los – seine tote Frau, seine Schuldgefühle, seine Besessenheit. Diese Katharsis ist für ihn real. Ob er sie in einem Traum oder in der Realität erlangt hat, und ob er sie danach in einer Fantasiewelt oder der Wirklichkeit auslebt, ist dabei nebensächlich.
Und hier kommen wir zur eigentlichen Genialität von Inception, der metatextuellen Meisterleistung von Christopher Nolan, der Tatsache warum für mich Inception, der Film, und inception, das Konzept, funktioniert.
Der Kreisel im Speziellen, und Inception im Allgemeinen, ist eigentlich kein riesiger gestreckter Mittelfinger, sondern ein riesiger Zeigefinger auf, und eine raffinierte Metapher für… Film. Es ist so simpel und doch so elegant, ähnlich wie die Tatsache dass in Nolans The Prestige in gewissem Sinn der große abschließende Zaubertrick bereits in der allerersten Szene versteckt war. Der Drehbuchautor und Regisseur Christopher Nolan ist ein "Architekt" mit dem wir einen "Traum", seine(n) Film(welt), teilen. Das Zentrale dabei ist: diese Welt füllen wir dann mit unseren Projektionen, um konkret zu sein, unseren Emotionen. Und diese sind, das ist die Magie des Kinos – eines geteilten Traumes, einer geteilten Halluzination, vielleicht in gewissem Sinne eines geteilten Lebens – für uns genauso real wie es die Katharsis für Dom Cobb ist.
Wo sonst als im Kino sitzt man in einer Gruppe von Menschen einträchtig zusammen, ist sich völlig bewusst dass das was man auf der Leinwand sieht nicht real ist, und bricht trotzdem in Tränen aus wenn ein geliebter Charakter stirbt? Oder verkriecht sich bei gruseligen Szenen vor lauter Angst hinter dem Sitznachbar?
In Inception meint Dom Cobb dass inception möglich, aber schwierig ist. In der realen Welt, einer Welt in der ein gewisser Christopher Nolan Filme macht, erleben wir es jeden Tag, und das mit Leichtigkeit. Und ein wirklich guter Film zeichnet sich nicht nur dadurch aus dass man echte Emotionen in ihn investiert, sondern dass man danach das Kino als veränderter Mensch, mit einer neuen Idee im Kopf, verlässt.
Fällt der Kreisel am Ende also um oder nicht? Weder noch, und genau darauf kommt es an. Wir, das Kinopublikum, nehmen den Kreisel, nehmen diese Idee, mit nach Hause – als wäre es die unsere. Denn was dann damit passiert, das entscheiden wir.
Meine Wertung: |
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