Review< Zurück 08.10.2012
Von Max Werschitz
Auf der Alm, da gibt's koa Sünd – und das ist auch kein Wunder, wenn man wie die Protagonistin dieses ungewöhnlichen österreichischen Films der einzige Mensch dort ist. Martina Gedeck brilliert als weiblicher Robinson Crusoe in einer schön apokalyptischen Universum-Folge die viele schaurige Fragen hinterlässt.
Die Idylle trügt.
Wenn es nicht alles Zufall gewesen wäre könnte man doch glatt behaupten: ich habe als Vorbereitung für den Besuch dieses Films gerade noch rechtzeitig ein kleines Trainingscamp für Zivilisationsverwöhnte absolviert. Am 23. September war ich zum ersten Mal seit fast zwei Jahrzehnten wieder wandern; eine Woche darauf zum ersten Mal überhaupt im Freilichtmuseum Stübing. Zwei halbe Tage also ganz nach dem Motto: zurück zu den Wurzeln, und weg von den Blüten die das moderne Leben eben so treibt: Elektrizität, Fernwärme, Klospülung, hurra.
Und es war schön. Stübing auch deswegen weil man dort seiner Fantasie in geschütztem Rahmen freien Lauf lassen kann: neugierig durch die finsteren, niedrigen Räume der Bauernhöfe stolpern und dabei versuchen sich in dieses karge Leben von vor über hundert Jahren hineinzuversetzen – alles in dem Wissen dass man nur ein paar Stunden später wieder zuhause in der gut beleuchteten und angenehm temperierten Altbauwohnung sitzt. Ein Museumsbesuch als Ersatz fürs Geisterbahnfahren: kontrolliertes Schauern. Und vor allem: ringsum Freunde mit denen man das Erlebnis teilen kann.
Die namenlose Ich-Erzählerin und Protagonistin von Die Wand, grandios gespielt von Martina Gedeck, hat da weniger Glück. An einem sonnigen Maiwochenende fährt sie mit einem befreundeten Ehepaar zu deren Jagdhaus ins oberösterreichische Gebirge. Am ersten Abend bleibt sie dort alleine zurück, während die beiden noch auf einen Sprung ins nahegelegene Dorf schauen – doch sie tauchen nicht mehr auf. Als sie sich am nächsten Morgen auf die Suche nach ihnen macht stößt sie schon nach kurzer Zeit auf eine unsichtbare Wand. Diese Wand umschließt – wie sie bald herausfindet – das gesamte Jagdrevier samt Alm, und sie als einzigen Menschen darin; alle Lebewesen dahinter scheinen wie in einer Totenstarre zu verharren. Der Protagonistin bleibt keine andere Wahl: sie muss sich mit diesem auf so mysteriöse Weise erzwungenen Eremitentum abfinden und erst mal ans Überleben denken. Sie pflanzt Kartoffeln an, geht (widerwillig) auf die Jagd, bringt die Heuernte ein, sammelt und trocknet Früchte, Pilze und Kräuter. Ein Leben wie vor hundert Jahren, mit einem gravierenden Unterschied: sie ist völlig alleine. Ihre einzige Gesellschaft sind der treue Hund "Luchs", eine zugelaufene Kuh und eine Katze. Wochen vergehen, dann Monate, der erste Winter will überstanden werden. Anderthalb Jahre nach Beginn dieses Albtraums fängt sie schließlich an ihre Gedanken zu Papier zu bringen:
"Ich schreibe nicht aus Freude am Schreiben, es hat sich eben so für mich ergeben dass ich schreiben muss, wenn ich nicht den Verstand verlieren will. Ich habe diese Aufgabe auf mich genommen, weil sie mich davor bewahren soll, in die Dämmerung zu starren und mich zu fürchten. Denn ich fürchte mich. Von allen Seiten kriecht die Angst auf mich zu, und ich will nicht warten, bis sie mich erreicht und überwältigt."
Die Wand basiert auf dem 1963 erschienenen gleichnamigen Roman der österreichischen Schriftstellerin Marlen Haushofer. Warum dieser großartige Stoff erst jetzt verfilmt wurde kann ich nicht sagen; klar ist jedoch dass Regisseur Julian Pölsler mit seiner Wahl exakt den Zeitgeist getroffen hat: Öl und Trinkwasser werden knapp, Atomkraftwerke und Banken fallen bei Stresstests durch, und der einst alternativlos erscheinende Kapitalismus pfeift aus dem letzten seiner unzähligen strukturellen Löcher. Hand aufs Herz, wer hat da nicht schon mal darüber nachgedacht wie es wäre sich eine kleine Selbstversorgerbastion am Land zu checken. Ich kann mich jedenfalls noch erinnern dass einer meiner Gedanken in Stübing war ob es bei einem Systemkollaps nicht am meisten Sinn machen würde den Zivilisationsneustart gleich ins Freilichtmuseum zu verlegen. Die entsprechende Infrastruktur und Hardware wäre auf jeden Fall schon mal da.
Es ist jedoch auch genau dieser aktuelle Kontext der deutlich macht dass der Originalroman fast 50 Jahre auf dem Buckel hat. Denn Die Wand zeichnet sich trotz seines hochbrisanten dystopischen Themas durch einen sehr bedächtigen, und dadurch eher altmodisch wirkenden, Grundtenor aus. Der Film ist keine effekthaschende Survival-Action sondern eine ruhige Charakterstudie, ganz anders als viele seiner aktuellen apokalyptischen Artverwandten vor allem aus der TV-Welt (z.B. Revolution, The Walking Dead). Und das obwohl Martina Gedeck, mit Kurzhaarfrisur, Dreck im verbissenen Gesicht und zwei Gewehren am Rücken, mich zeitweise an eine österreichische Ellen Ripley erinnert hat.
Eine Charakterstudie der Protagonistin ebenso wie der Natur in der sie sich so plötzlich alleine zurechtfinden muss. Ein traditionell zu erwartender Handlungsbogen tritt in den Hintergrund, denn es wird nichts erklärt und kaum etwas erforscht – weder die Existenz und genaue Beschaffenheit der Wand, noch die Hintergrundgeschichte der Protagonistin selbst. Etwas frustrierend ist dabei dass die einsame Heldin zwar sichtlich unter ihrem Schicksal leidet, jedoch erstaunlich wenig Anstalten macht aktiv nach einem Ausweg zu suchen. Somit gestaltet sich der Film großteils wie eine Aneinanderreihung von intensiven Momentaufnahmen, getragen einerseits durch die Naturbilder, andererseits durch die einsam reflektierende Erzählerinnenstimme. Beide Elemente sind – visuell und dramaturgisch von Regisseur Pölsler, schauspielerisch von Hauptdarstellerin Gedeck – eindrucksvoll umgesetzt und zu einer dichten Stimmung verwoben. Meistens zumindest. Denn sie treten auch in ungeplante Konkurrenz miteinander: es gab einige Stellen bei denen ich wie hypnotisiert geistig abgedriftet bin und erst später bemerkte dass ich gerade ein paar Sekunden des hochphilosophischen Monologs verpasst hatte.
Am Schluß, soviel darf verraten werden, gibt es dann noch einen unerwarteten Höhepunkt, dieser bleibt aber ebenso unerklärt wie vieles davor, und das Ende schließlich offen. Der Zuseher wird aus dem kontrollierten Schauern recht abrupt wieder herausgerissen, aber nimmt sich dafür jede Menge schöner Fragen in seine zivilisierte Welt mit: Woher kam die Wand? Warum war sie da? Und vor allem: was würde ich selbst wohl in so einer Situation machen?
Meine Wertung: |
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Filme gehören besprochen. Kinomo! Du fängst an!